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Brauchen wir überhaupt noch Führungskräfte?

Aktualisiert: 6. Feb. 2022

Selbstorganisierte Teams, Führung auf allen Ebenen, agile Rollen... brauchen wir da überhaupt noch eine Führungskraft?


Als ich in der Beratung angefangen habe, wurde mir sehr lange nachgesagt, dass Projektleitung doch gar nicht in meinem Interessengebiet liege. Ja, zurecht! So wie ich es damals erlebt habe, haben sich ProjektleiterInnen mit Exceltabellen beschäftigt, Abnahmen jeder noch so kleinen Tätigkeit vorgenommen, seitenlange Verträge geschrieben und Ressourcen zugeteilt.

Danke, aber nein Danke! Und ja, das sind wichtige und berechtigte Tätigkeiten, nur in welcher Form und auf welche Weise diese ausgeführt werden kann ein großen Unterschied spielen. Mir kamen die Kunden, die Auftraggeber und die Teammitglieder – der Mensch – zu kurz.


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Management vs leadership

Das Bild vom Management und Leadership scheint sich immer weiter zu differenzieren. Wer anfangs als Visionär, als Netzwerker oder Entrepreneur bezeichnet und zumindest in größeren Unternehmen mit einer hochgezogenen Augenbraun betrachtet wurde, gewinnt heute mehr und mehr an Bedeutung.

"Management bedeutet, eine Organisation am Laufen zu halten; Leadership hingegen bedeutet, sie zu verändern und dabei andere mitzureißen", John P. Kotter

In anderen Worten; auf der Reise geht es sowohl darum, zu prüfen, ob das Fahrzeug getankt ist, keine Warnblinklampe leuchtet, genug Proviant an Board ist, als auch darum, wie alles zusammenspielt, nach vorne zu schauen, das Ziel zu visualisieren.


Leader entwicklen Visionen, stoßen Veränderungen an und schaffen Neues. Die Persönlichkeit und Überzeugungskraft tritt hier besonders in den Vordergrund (Vgl. Kotter, J.P.). Als ManagerIn gilt es Effizienz, Stabilität und Sicherheit zu wahren. Zu koordinieren, monitoren und Probleme des Daily-Business zu lösen. Auch um diese Ziele zu erreichen, ist die Motivation und Inspiration von Personen eine vielversprechende Lösung.


Entsprechend kann für Unternehmen abgeleitet werden, dass es sowohl um Exploitation, die Optimierung bestehender Modelle, Effizienz und Stabilität, als auch um Exploration, also das gleichzeitige Erforschen von Neuem und Flexibilität geht. Es braucht beidhändige Führung, die sogenannte Ambidextrie (Vgl. O'Reillly, Tushman).




 

Führung? Mehr als ein Buzzword?

Allgemein kann Führung als interaktiver Prozess beschreiben werden, indem gegenseitige Einflussnahme innerhalb einer Gruppe mit gemeinsamen Purpose geschieht, um bestimmte Ziele zu erreichen (Vgl. Northouse, P. G.; Wegge, J./ Rosenstiel, L.). Nach dieser Definition, ist Leadership erlernbar und nicht auf Charaktereigenschaften zurückzuführen (im Gegensatz z.B. zur Great-Man-Theory).


Führung ist somit eine Interaktion, die nicht einzelnen Personen zugeschrieben wird, sondern von allen gelebt werden kann (Vgl. Northouse, P. G.) – hier spiegelt sich die Verbindung zu selbstorganisierten Teams und Führung auf allen Ebenen. Viele Unternehmen haben für sich erkannt, dass einzelne Führungskräfte gar nicht alles wissen (können) und auch nicht müssen. Geschweige den Risiken, die eine solche Einstellung und Position hervorbringt. In agilen, lernenden Organisation geht es darum, Mitarbeitende zu befähigen, es geht um #Selbstorganisation #PersonalMastery und #Teamlernen. Hier stellt sich die Frage, ob wir überhaupt noch Führungskräfte brauchen.


Neben disziplinarischer Verantwortung, einhergehenden Pflichten und vertraglichen Vereinbarungen; steht in der Regel die Erwartung seitens Unternehmen im Raum, das Führungskräfte die Verantwortung und Aufgaben übernehmen, um Ziele zu erreichen, die auf größere Unternehmensziele einspielen (Vgl. Mellerowicz, K.; Malik, F.). Sind diese Aufgaben nicht mehr von einer einzelnen Person zu erfüllen, werden Mitarbeitende eingestellt und das Thema Führung rückt in den Vordergrund. Somit wird der Führungskraft zuteil, die Tätigkeiten zu übernehmen, die es benötigt, damit Mitarbeitende ihre Aufgaben im jeweiligen Verantwortungsbereich (bestmöglich) erfüllen. Aus Theorie und Praxis ergeben sich hier vielfältige Definitionen und Variationen, welche unter diese Verantwortung fallen und wie diese umgesetzt werden.



 

Führung im agilen Kontext


Organisationen beschäftigen sich mit Agilität, wenn sie erhöhter Komplexität gegenüberstehen; wenn nicht mehr vorhersehbar ist, was vielleicht schon der nächste Tag bringen mag und nur noch unvollständie Informationen zur Verfügung stehen. Hier wird schnell klar, dass "Command and Control", detailgetreues analysieren von Situationen, wochenlanges austüfteln von Plänen und setzen von Jahresbudgets höchstens nur noch eine Scheinsicherheit vermitteln kann und in diesem Sinne zu Ineffizienz führt – das notwendige Feedback zur Überprüfung von Hypothesen wird höchstens hinausgezögert (Vgl. Humble, J. et al).


Agile Organisationen stützen sich auf die Fähigkeit zur Anpassung. Statt zu planen und versuchen Vorhersagen für das kommende oder die nächsten Jahre zu treffen, wird nur soweit geplant wie notwendig (Vgl. McGreal, D./ Joacham, R.).

"The first reasonable moment to make a decision is the last responsible one.", Don McGreal, Ralph Joacham

Tätigkeiten, die somit nach Definition eher dem Management zuzuordnen sind, werden da verortet, wo die Informationen liegen – in selbstorganisierte Teams. Alignment wird somit durch den Purpose erreicht, dem sogenannten "Missionprinzip" (Vgl. Humble, J. et al) – durch Kommunikation eines Zielzustandes, dem dahinterstehenenden "Warum" und notwendigsten, einzuhaltenden Rahmenbedingungen.


Die Motivation, Vision, Purpose – Leadership – rücken weiter in den Fokus von Führungskräften. Statt Aufgaben zu delegieren, wird Selbstverantwortung gefördert. Führungskräfte versuchen die Potentiale der Teams freizusetzen und räumen Blocker und Hindernisse aus dem Weg. Sie verstehen es Menschen zu berühren und Visionen zu visualisieren.




 

Führung als Rolle


Führung war lange Zeit in Unternehmen an Positionen gebunden. Womit der Führung vor allem formale Macht zugesprochen wurde. Sie konnte Anreize und Kosten verursachen: "du machst, was ich dir sage, ansonsten werden Konsequenzen folgen". In agilen Frameworks wird Führung als Rolle definiert, welcher konkrete Handlungs-, Prozess- und Verantwortungsbereiche zugeschrieben werden.


Im Scrum Framework wird beispielsweise der Rolle Product Owner (PO) die Maximierung des Produktwertes und effektives Product Backlog Management zugeteilt und mit minimalen Tätigkeiten beschrieben. Im Scrum Guide wird zusätzlich eine Differenzierung vorgenommen, dass der PO die Tätigkeiten delegieren kann ("...may Delegate the responsibility to others.", jedoch in der Verantwortung bleibt ("...the Product Owner remains accountable") (Vgl. Scrum Guide).

Es gilt somit ein Ziel aufzuzeigen und alle notwendigen Informationen bereit zu stellen. In agiler Literatur wird dabei herausgestellt, dass diese Ziele im Idealfall das WARUM fokussieren. Nachweise ergeben sich zum Beispiel durch die Satzschablone von User Stories: "As a <type of user>, I want <some goal> so that <some reason>.


Weitere Rollen (im Scrum Framework vor allem die Developer) setzen diese Ziele eigenverantwortlich und selbstorganisiert um. Hier geht es mehr um das WAS und das WIE. Durch bedeutungsvolle und mitreißende Ziele sowie die Übernahme von Verantwortung und Organisation zur Erreichung dieser wird auf die intrinsische Motivation angespielt, wodurch ein Anreiz alleine durch die Ausführung entsteht und somit die Führungsleistung entlastet, indem keine große Überzeugungsarbeit geleistet werden muss.


Dem Scrum Master wird ergänzend die Verantwortung zugeteilt, Scrum nach Definition des Scrum Guides einzuführen und ebenso die Scrum Team Effektivität zu sichern. Womit dieser Rolle die Aufgabe zuteil wird, die Strukturen zu ebnen; die unterschiedlichen Rollen, Stakeholder und Organisation zu unterstützen; das Team aufzubauen, zu (beg-)leiten (im Sinne Servant Leader) und zu entwickeln sowie Hindernisse aus dem Weg zu räumen (Vgl. Scrum Guide). Auch viele dieser Verantwortungsbereiche spiegeln sich im Führungsverständnis des Leadership wieder.


In agilen Organisationen agieren die Rollen nicht durch hierarchische Autorität, sondern indem sie Menschen erreichen und gemeinsam arbeiten, wobei unterschiedliche Verantwortungsbereiche (einer Rolle) zugeteilt sind. In diesem Zuge spricht man auch von "auf Augenhöhe". Die Macht ist nicht mehr durch eine Position und somit Möglichkeit zur Sanktion oder Belohnung definiert, sondern Führung wird über bestimmte Verantwortungen in einer Rolle verankert und wird daher nicht mehr (unbedingt) hierarchisch übergeordnet. Die Autorität entwickelt sich aus Interesse und Fürsorge "ich bin an deiner Seite und bleibe, bis wir eine Lösung gefunden haben". Grenzen werden durch Entschiedenheit und Toleranz aufgezeigt (Boos, F./ Bzuanich-Pöltl, B., S. 187).



 

Nicht weniger, sondern mehr Führung


Wir können also festhalten, dass es in agilen Organisationen nicht um weniger, sondern um mehr Führung geht. Wobei Führung nicht durch Positionen und Hierarchien definiert ist, sondern auf allen Ebenen gefördert und teilweise in Rollen verankert werden sollte. Hieraus ergibt sich ein Zusammenspiel an Verantwortungen und Aufgaben.


Den Weg dorthin können Führungskräfte und agile Coaches ebnen, indem Muster und Entscheidungen explizit gemacht und aufgebrochen werden, indem sie als Vorbilder agieren, kommunizieren und Sinn vermitteln.





Literatur

Boos, Frank/ Buzanich-Pöltl, Barbara (2020): Moving Organization. Wie Sie sich durch agile Transformation krisenfest aufstellen. Schäffer Poeschel. Oktober 2020.

Humble, Jez/ Molesky, Joanne/ O'Reily, Barry (2017): Lean Enterprise. O'Reilly®.

Kotter, John P. (1990): A Force For Change: How Leadership Differs From Management. The Free Press.

McGreal, Don/ Joacham, Ralph (2018): The Professional Product Owner. Addison-Wesley.

Malik, F. (2001): Führen, Leisten, Leben. Wirksames Management für eine neue Zeit. München: Heyne. Mellerowicz, K. (1963): Unternehmenspolitik. Band 1: Grundlagen. Freiburg: Haufe.

Northouse, Peter G. (2018): Leadership: Theory and Practice. Sage Publishing.

O'Reilly, Charles A./ Tusham, Michael L. (1996): The ambidextrous organization. Standford Business Books.

Schwaber, Ken/ Sutherland, Jeff (2017): The Scrum Guide.

Wegge, Jürgen/ Rosenstiel, Lutz von (2004). Führung. In H. Schuler (Hrsg.), Lehrbuch Organisationspsychologie (S. 475-513). Bern: Huber.

 
 
 

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